Mehlschwalbe Foto: P. Vlaicu
Mehlschwalbe Foto: P. Vlaicu

Dreimal zum Mond

Angelika Dester

Wenn Vögel ziehen, leisten sie Erstaunliches. Was sie antreibt, ist auch eine innere Uhr. Obwohl manche Routen seit Jahrtausenden unverändert sind, können sich Vögel überraschend schnell an neue Bedingungen anpassen. Angelika Dester hat mit Jörg Günther über die Faszination Vogelzug gesprochen.

Herr Günther, gibt es nur den einen Vogelzug?

Nein, den Begriff Vogelzug muss man differenziert betrachten. Da gibt es die sogenannte ungerichtete Dispersion, wenn sich beispielsweise eine junge Schleiereule zur Suche eines eigenen Reviers vom Geburtsort entfernt. Diese Einwegbewegung trägt unter anderem zur Entstehung des Vogelzugs bei. Davon unterschieden werden Invasion oder Nomadismus bei Arten mit hoher Wanderbereitschaft, wenn etwa Nahrungs- oder Brutmöglichkeiten regional stark schwanken. Der Fichtenkreuzschnabel ist so eine Art. Er kann jährlich über 100 Kilometer zurücklegen, um eine geeignete Brutstätte mit entsprechendem Nahrungsangebot zu finden. Auch vertikale Wanderungen oder Fluchtbewegungen sind Vorstufen zum Vogelzug. So zieht der Mäusebussard bei starkem Schneefall in mildere Gebiete nach Südwesten, wo er bessere Chancen auf Beute hat.

Was treibt Vögel an, sich jedes Jahr auf die Reise zu machen?

Es sind vor allem genetische Veranlagungen, von innen gesteuerte Bewegungen, die den Vogel regelmäßig zwischen Brut- und Nichtbrutgebieten ziehen lassen. Ich spreche hier gerne von der inneren Uhr. Wenn diese aktiv wird, frisst sich der Vogel viel Fett an, fliegt zügig los und wird bei Ankunft im Überwinterungsgebiet wieder ruhiger. Dieses festgelegte Zeit- und Richtungsprogramm läuft auch in Gefangenschaft ab. In der Vogelwarte Radolfzell am Bodensee zeigten Vögel in Käfigen während ihrer üblichen Zugzeit nachts ständig Bewegungsdrang in die Zugrichtung. Nach Ende der Zugzeit waren sie wieder ruhig. Der Vogelzug ist also wie eine Spieluhr, die jede Saison neu aufgezogen wird.

Mauersegler, Foto: © Stephan Rudolph
Mauersegler, Foto: © Stephan Rudolph

Mauersegler auf dem Weg in den Süden.


Wie ist der Vogelzug entstanden?

Dazu gibt es unterschiedliche Thesen. Eine sieht z.B. die Verschiebung der Kontinentalplatten als mögliche Ursache, warum Vögel so weite Strecken fliegen. Besonders ausgeprägt ist der Vogelzug bei Arten auf der Nordhalbkugel. Die Vermutung liegt nahe, dass ein Überleben in nördlichen Breiten nur durch entsprechende Anpassung oder ein Abziehen während des Winterhalbjahres in Gebiete mit günstigerem Klima möglich war. Letzteres führte wohl zu höheren Überlebensraten und wurde somit an nachfolgende Generationen weitergegeben. Das Ende der letzten Eiszeit vor neuntausend Jahren könnte eine weitere Ursache für den Zug sein. Während der Wiedererwärmung folgten die Vögel den abschmelzenden Eismassen nach Norden und erschlossen sich so neue Lebensräume. Bis heute pendeln sie auf den ehemaligen Einwanderungsrouten zwischen den im Norden gelegenen Brutgebieten und den südlichen Überwinterungsgebieten, den ehemaligen Refugialräumen während der Eiszeit. Aber auch veränderte Umweltbedingungen oder die Urbanisierung kommen als Ursache infrage.

Wo lässt sich der Vogelzug in unserem Landkreis gut beobachten?

Am besten auf waldfreien Hügeln. Im Herbst braucht man eine gute Weitsicht Richtung Nordost, im Frühjahr Richtung Südwest. Die Endmoräne bei Landsberied ist gut geeignet. Hier sieht man ab August natürlich Schwalben auf ihrem Zug nach Afrika und ab Mitte September bis Mitte Oktober dann Buchfinken, aber auch Arten wie Wiesen- und Baumpieper oder seltene nördliche Arten wie Rotkehlpieper.

 

Seit etwa fünf Jahren ziehen Anfang November auch Kraniche durch Oberbayern in Richtung Spanien und Frankreich, anstatt über die ursprünglich östliche Route nach Nordostafrika. In Frankreich haben sie sich z.B. Stauseen als neue Winterquartiere erschlossen und finden dort offenbar geeignetere Bedingungen als in Nordafrika vor. Sobald in den Zwischenrastgebieten in Ungarn der Winter einbricht, können wir die Kraniche im Landkreis nachts hören und tags nach Westen ziehen sehen. Durch den kürzeren Zugweg haben diese Vögel einen „Fitnessvorteil“ gegenüber den Artgenossen mit längerem Zugweg nach Ostafrika. So kann sich die neue Route in den betroffenen Populationen erfolgreich durchsetzen. Übrigens lernen junge Kraniche und Schwäne auf einem gemeinsamen Zug von ihren Eltern den Weg. Hier zeigt sich, wie Vögel ihr Zugverhalten auch an veränderte Bedingungen anpassen können.


Auf ihrer Reise begegnen die Vögel zahlreichen Gefahren, vor allem vom Menschen verursacht, wie die Jagd. Welchen Einfluss hat das auf die Populationen?

Die Jagd auf und der Fang von Zugvögeln ist grausam und kostet jedes Jahr Millionen von Vögeln das Leben. Manche Jagden, beispielsweise die der Waldschnepfe in Frankreich oder der Greifvögel im Libanon, haben nachweislich Einfluss auf den Bestand. Die Weidenammer zum Beispiel, einst ein sehr häufiger Brutvogel in Sibirien, ist heute durch den industriellen Vogelfang in China eine global gefährdete Art.

So furchtbar die Jagd auf Vögel auch ist, beim Thema Artenschutz müssen wir uns an die eigene Nase fassen. Vögel brauchen geeignete Rast- und Bruthabitate. Nur so können sie sich genügend Fett für den langen Zug anfressen und eine ausreichende Zahl an Jungen durchbringen. Intensive Landwirtschaft, die Verkleinerung naturbelassener Flächen, starke Bebauung und auch der Freizeittourismus an Flüssen und Seen gefährden unsere Vogelarten sehr viel mehr als die Jagd. Hier haben wir die regionale Verantwortung, Rast- und Bruthabitate mit ausreichend Nahrung und störungsarmen Nistplätzen zu erhalten; beispielsweise das Ampermoos als wertvolles Rasthabitat für die Kornweihe und Brutgebiet für wiesenbrütende Vogelarten. Solche Schutzgebiete ohne störenden Tourismus sowie extensiv genutzte Wiesenlandschaften und Feuchtgebiete sind essenziell. Jeder kann einen Beitrag leisten, indem er sich im Naturschutz engagiert oder auch nur seinen Garten etwas vogelfreundlicher gestaltet.

Vielen Dank für das spannende Gespräch.

Mönchsgrasmücke, Foto: © R. Rößner, LBV Bildarchiv
Mönchsgrasmücke, Foto: © R. Rößner, LBV Bildarchiv

Warum in die Ferne schweifen? Die Mönchsgrasmücke verbringt ihre Winter inzwischen in England.


Rekordstrecken und historische Umwege

Den Streckenrekord hält die Küstenseeschwalbe. Sie fliegt jedes Jahr vom Nordpol in die Antarktis und zurück. Einfach sind das 18.000 Kilometer. Bei einer Lebenserwartung von 30 Jahren kommen so über 1.000.000 Kilometer zusammen – fast dreimal die Strecke zwischen Erde und Mond. Der Steinschmätzer, ein Singvogel etwas kleiner als die Amsel, brütet auch in Westkanada, Grönland und Alaska. Er überwintert, historisch durch die Eiszeit bedingt, in West- und Ostafrika. Dabei legt er über

den Atlantik eine Strecke von 3.400 Kilometern in vier Tagen zurück ‒ 850 Kilometer täglich. Brutvögel aus Alaska durchqueren auf ihrem Zug nach Ostafrika das gesamte Asien

Evolutionsgeschwindigkeit und Vogelzug

In Selektionsexperimenten hat die Vogelwarte Radolfzell Mönchsgrasmücken aus Populationen von Zug- und Standvögeln miteinander gekreuzt. Bereits nach zwei Generationen gab es Vögel, die ein verringertes Zugverhalten zeigten. Bis zur vierten Generation war es komplett herausgezüchtet. Die Mönchsgrasmücke ist auch ein Beispiel für verändertes Zugverhalten aufgrund von Klimawandel und neuem Futterangebot. Statt nach Spanien ziehen manche seit ca. 40 Jahren nach England, wo die Winter inzwischen milder sind und die Menschen fleißig füttern. Weitere Informationen zu den Experimenten und zum Thema Vogelzug finden sich beispielsweise unter www.spektrum.de

Vogelzugbeobachtung

Seit 40 Jahren beobachtet die Forschungsstation Randecker Maar e.V. (www.randecker-maar.de) in der Schwäbischen Alb den Herbstzug der Vögel von August bis November. Die dort erhobenen Daten lassen Rückschlüsse auf Bestandsentwicklungen zu. Es zeigt sich, dass Waldvogelarten zunehmen, wohingegen Wiesenbrüter- und andere Offenlandarten stark rückläufig sind. Zudem lässt sich seit Beginn der Erfassung ein immer späterer Abzug im Herbst und eine frühere Rückkehr im Frühjahr feststellen. Auf www.ornitho.de kann jeder seine Vogelbeobachtungen melden. Die Daten werden von den in der jeweiligen Region zuständigen Koordinatoren gesammelt und für wissenschaftliche, auch lokale Auswertungen verwendet


Jörg Günther

Jörg Günther studierte Landespflege in Nürtingen und arbeitet aktuell in der Naturschutzverwaltung des Freistaats Bayern. Er war ehrenamtlicher Mitarbeiter der Vogelwarte Radolfzell und Beringungshelfer auf Helgoland. Die Liebe zur Vogelbeobachtung hat er von seinem Großvater. Er beschäftigt sich privat intensiv mit dem Vogelzug.